Die vier Gesich­ter des Seins

Sein oder nicht sein - das ist hier nicht die Fra­ge. Son­dern, wie die Na’­vi das mit die­sem Verb handhaben.

Auf Deutsch kön­nen wir sagen, „Ich bin Kris”, „Ich bin Jäger”, „Ich bin schnell”, „Ich bin müde”, „Ich bin zu Hau­se” und so wei­ter. Hier wird für all die­se Vari­an­ten ein uns das­sel­be Grund­verb ver­wen­det: „sein”. Auf Deutsch funk­tio­niert das so also, auf Na’­vi aller­dings nicht - denn für all die­se ver­schie­de­nen Aus­sa­gen bzw. die vier Arten des „Seins” haben die Na’­vi ver­schie­de­ne Verben:

Lu

In der letz­ten Lek­ti­on und auch davor ist dir die­ses Verb bereits begeg­net. Es heißt „sein”, bil­det also „ich bin, du bist, er/sie/es ist, wir sind, ihr seid, wir sind”.

  1. Es ist eine Art Gleich­heits­zei­chen (=), um den Zustand oder ähn­li­ches von etwas oder jeman­dem zu beschrei­ben, einem Sub­stan­tiv also ein Prä­di­kat zuzu­ord­nen, wie in der letz­ten Lek­ti­on gesehen,
  2. oder wird bei den Na’­vi auch ver­wen­det, um Besitz aus­zu­drü­cken („Mir ist etwas → Ich habe etwas”).
  3. Die Na’­vi ver­wen­den lu aber noch für eine drit­te Ver­wen­dungs­mög­lich­keit, näm­lich für all­ge­mei­ne Exis­tenz oder das Vor­han­den­sein von etwas.

All sei­ne Ver­wen­dun­gen fas­se ich noch ein­mal für dich zusammen:

  1. Prä­di­ka­te / prä­di­ka­ti­ve Adjektive:
    1. Oe taronyu lu. - Ich bin Jäger.
    2. Oe win lu. - Ich bin schnell.
      Lu fun­giert hier qua­si als Gleich­heits­zei­chen, „Oe = taro­nyu”, „Oe = win”.
  2. Besitz / „haben”:
    1. Oeru puk lu. - Mir ist ein Buch. = Ich habe ein Buch.
      Besitz­an­ga­be („haben”) mit­tels des indi­rek­ten Objekts (R-Endung) und lu.
  3. All­ge­mei­ne Exis­tenz / all­ge­mei­nes Vorhandensein:
    1. Aungia lu. - Es gibt ein Zei­chen. / (Da) ist ein Zeichen.
      Ohne wei­te­re Ele­men­te ver­hilft lu zu einer all­ge­mei­nen Aus­sa­ge über die Exis­tenz oder das Vor­han­den­sein von etwas oder jeman­dem (Sub­jekt).

Dar­über hin­aus fin­det die­ses Wört­chen kaum Anwen­dung. Doch was ist mit „Ich bin Kris” und so wei­ter? Nun, da kom­men ande­re Ver­ben ins Spiel:

Syaw

Ok, auf Deutsch wür­de man wahr­schein­lich eher sagen „Ich bin die Kris” (ein Unding! ;P) oder ein­fach nur „Ich hei­ße Kris”. Und ähn­lich wie „Ich hei­ße Kris” sagen das auch die Na’­vi; sie ver­wen­den hier­für vor­zugs­wei­se syaw („rufen, nen­nen”):

Oeru fko syaw Krr. - Zu mir man ruft Kris. = Man nennt mich Kris. = Ich hei­ße Kris. = Ich bin Kris.

Die­sen Satz kann man auch kür­zen, und zwar indem man das Sub­jekt (fko / „man”) ein­fach weglässt:

Oeru syaw Krr. - Ich bin / hei­ße Kris.

Natür­lich darf man auch hier dank der frei­en Wort­stel­lung die Wör­ter so her­um­wür­feln wie man lus­tig ist. Beach­te dabei nur, dei­nen Namen statt mei­nen (Krr­sì) zu ver­wen­den - es sei denn, du heißt eben­falls Kris ;D

Wenn man erfah­ren will, wie jemand heißt, kann man also fragen:
Ngaru fko syaw fyape? - Wie ruft man zu dir? Wie nennt man dich? Wie heißt du?
-
Man darf bzw. kann aber auch, wie im Deut­schen, hier statt­des­sen lu benutzen:
Kaltxì! Ngenga lu pesu? - Hal­lo! Wer bist du?
Kaltxì! Oe lu Kiri. - Hal­lo! Ich bin Kiri.
-
Ngenga ist übri­gens die zere­mo­ni­el­le bzw. höf­li­che Form von nga. Sie wird hier ver­wen­det, weil bei einer Vor­stel­lungs­run­de mit einem Frem­den in die­ser Fra­ge („Wer bist du?”) ein nga recht rüpel­haft klin­gen wür­de, ngenga hin­ge­gen „ent­schärft” den Ton der Fra­ge und macht ihn förm­li­cher, respekt­vol­ler, freund­li­cher. Es wür­de also auch nicht scha­den, in der ers­ten Fra­ge inner­halb die­ses Kas­tens ngengaru statt ngaru zu verwenden.
Wenn man auf die­se Fra­gen ant­wor­tet, darf man aber getrost wie­der zu den nor­ma­len „nicht förm­li­chen” Pro­no­men wech­seln, also oe statt ohe.

efu

Und was ist mit „Ich bin müde”? Der ers­te Ver­such es zu über­set­zen wür­de wahr­schein­lich in etwas wie „Oe lu ngeyn” mün­den, jedoch kannst du dir sicher schon den­ken, dass dies so nicht funk­tio­niert. Denn die Na’­vi sagen qua­si „Ich füh­le (mich) müde” - und wenn ich im Wör­ter­buch nach­schla­ge, spuckt es mir für „füh­len, emp­fin­den, wahr­neh­men” das Verb ‘efu aus.
Die­ses Verb wird für inne­re Gefüh­le und Emp­fin­dun­gen verwendet.
In einem Satz ange­wen­det erhal­ten wir dann so was wie:

Oe ‘efu ngeyn. - Ich füh­le (mich) müde. = Ich bin müde.

Oe ‘efu nitram. - Ich füh­le (mich) glück­lich. = Ich bin glücklich.

Oe ‘efu spxin. - Ich füh­le (mich) krank. = Ich bin krank.

Tok

Okay, und was ist mit unse­rem letz­ten Bei­spiel, „Ich bin zu Hau­se”? Dafür gibt’s doch sicher auch ein ande­res Wort als lu, oder?
Jep, genau so ist es ;) Wenn man näm­lich „Oe lu kel­ku” sagen wür­de, wür­de dies ja „Ich = Haus; Ich bin ein/das Haus” bedeu­ten - und das ist ja nicht das gewünsch­te Ergebnis.

Statt­des­sen gibt es das Verb tok, was so viel heißt wie „(räum­lich) sein, an einem Ort sein, sich an einem Ort befin­den; einen Ort fül­len, räum­lich einnehmen.”
Die­ses Verb ist jedoch tran­si­tiv. Erin­nerst du dich? Tran­si­ti­ve Ver­ben (vtr.) und direk­tes Objekt (T-Endung)? Genau, die Na’­vi lösen das mit­tels L und T-Endung:

Oel tok kelkuti. - Ich befin­de mich zu Hau­se = Ich bin (räum­lich) zu Hause.

Oe kelku lu. - Oel kelkuti tok.

Okay, jetzt bist du wie­der gefragt!

 

Du hast dich wäh­rend die­ser Lek­ti­on viel­leicht gefragt, „Moment, es gibt doch noch so etwas wie ‘Ich bin am jagen’, oder ‘Ich bin aus Stadt­na­me’, was ist damit?” - Nun, um das aus­zu­drü­cken, benö­ti­gen wir je eine kom­plett ande­re Kon­struk­ti­on, und die wür­de den Rah­men die­ser Lek­ti­on spren­gen. Aber kei­ne Sor­ge, ich komm dar­auf in naher Zukunft schon noch zu sprechen :)